• Einzelhaft

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    Die Einzelhaft
    Mein Leben war nur noch warten. Warten auf den Moment meiner Überflüssigkeit. Nebenbei wartete ich auch auf Leinen und Farbe.
    Jede Sekunde war zu lang und zu kurz und keinen Augenblick lang mit der Qualität des „Moments“ versehen: echt zu sein, unverwechselbar und kostbar. Die Situation in dem Kellerloch war schier unerträglich. Die sanitäre Einrichtung bestand aus einem Loch im Boden, das dem Geruch und den Geräuschen nach direkt in der Kanalisation mündete. Ein still vor sich hin tropfender Wasserhahn war mein Durstlöscher.
    Mein Wächter kam alle paar Tage (ich wusste nie, wann das nächste Mal) mit einer Tasche voller Konserven zu mir herunter. Ungewaschen, ohne jegliche neue Kleidung, inmitten eines wachsenden Stapels leerer Konservendosen, stinkend und verfilzt kam ich mir vor wie ein Untier, ein schon halb verwestes Stück Fleisch, kaum mehr denkend, geschweige denn fühlend.
    Anders als so gut wie abgestorben hätte ich das auch nicht überlebt: da sich mein Verstand in eine kleine private Ecke zurückzog, konnte er auch wieder auftauchen, wie nach einem langen Schlaf, etwas verquollen wirkend und desorientiert. Ein Tag lang völlige Dunkelheit brachte mich zu Halluzinationen, farbige Blitze zuckten durch den Raum und durch meinen Schädel. Stimmenhören setzte ein, bis ich begriff, dass die ein Vorgang innerhalb meines Kopfs waren, lag ich um Hilfe rufend auf dem Boden und brüllte in das Loch, durch das ich sonst schiss. Aber, es war ja niemand als ich selbst, der da sprach, keine Kanalarbeiter oder Attentäter auf dem Weg zur Arbeit. Bis endlich mein Wächter kam und eine neue Glühbirne einschraubte.
    Warten. Warten ist ja keine Zeit: das Warten ist eigentlich ja ein binärer Zustand: noch nicht oder schon. Der Wandel, die Veränderung ist, nur auf ein Ereignis wartend, kein Merkmal unterscheidbarer Zeitpunkte. Was ich an Markierung tun konnte, tat ich: wichsen.
    Das alte Bild der „Idioten“, in der Irrenanstalt des 19. Jahrhunderts vegetierend und ununterbrochen onanierend, war als Beobachtung durchaus richtig. Aber nach dieser Erfahrung war mir klar, dass es nicht die Leere des Nichtvermögens oder gar Symptom der Geistesstörung gewesen sein konnte, sondern der einfach herbeizuführende Moment, die Sensation, die einen Zeitpunkt vom anderen trennen kann.
    Zumal ja und dazu eigentlich widersprüchlich, der Orgasmus selbst mit einer Woge der Selbstvergessenheit lockt. Ich hatte niemanden als meine immer flacher werdenden Phantasie, mit der ich spielen konnte, dieses starke Spiel der Erotik. Der vernachlässigte, abgestrafte Irre fand in den Mauern, die seinen Geist, seine Seele und seinen Körper von den „Gesunden“ schied, nicht die Förderung, um seinem nächsten, ebenso Opfer wie er selbst, die Nähe anzutragen, die ihm im Sex die Befreiung von sich selbst und die Erkenntnis eines anderen vermitteln konnte. So waren wir Selbstbeflecker Kollegen über, wie die Bibel lehrt, die Jahrtausende hinweg. Onan hatte es gut, aber Gottes Blitz tilgte nicht mit mir zusammen meine Qual von der Welt. Mich selbst zu töten war ich nicht fähig. Also Selbstbefriedung durch Selbstvergessen durch Selbstbefriedigung. Kümmerlich.
    Wäre nicht die Aufmerksamkeit meines Peinigers ein Trost? Die Vorstellung klingt lächerlich: dass es jemandem, einem Vergewaltigungsopfer besser ginge, weil es die ungeteilte Aufmerksamkeit des Peinigers besitzt. Unwert als Person zu sein ist ja ein Schmerz, zu dem Schmerz der körperlichen Leiden hinzu sich fügend, deren der Mensch ausgesetzt ist, während ein anderes Abbild Gottes seinem Drang folgt. Und doch; ich litt an und tröstete mich mit der Vorstellung, es als Stück Fleisch in nicht artgerechter Käfighaltung schlimmer zu haben als eine Frau, deren Nein nicht respektiert wird, deren Körper gestohlen und benutzt wird.
    Ihre Seele wird verletzt, die meine schlicht ignoriert. Mit solchen Gedanken konstruierte ich mir absurde Vergleiche, um Unterscheidungen zu haben in meinem Zustand der Indifferenz. Wie wichtig doch das Ego ist, wie drängend seine Forderungen, bis auch die eigene Verlorenheit Herausforderung in Vergleichen mit Zerstörtem sucht. Nicht um sich selbst zu bemitleiden, sondern in der Zerstörung des Selbst noch das unverwechselbar Eigene zu finden. Ich zerfiel. Während ich mir aus purer Not zum ersten Mal seit Jahren Gedanken um andere Menschen machte.
    .
  • schroedinger
    ... ist interessiert
    zu erfahren, wie es zu der Einzelhaft kam.

    Also, wie kam es zu der Einzelhaft?

    Sehr schön der Aussatz: "Ich zerfiel."



    Signatur
  • , 1
    In Malaysia - kurz nach dem 11.9. world trade center - habe da im Restaurant zu laut gesagt: ihr achtet darauf, dass kein schweinefleisch in euren mund kommt - aber dafür kommt verdammt viel schweinerei daraus hervor. war halt genervt von dem spektakel. - das warten auf leinen und farben ist metaphorisch gemeint
  • schroedinger
    --- ah so.
    dachte schon, Sie sitzen in
    einem Büro alleine und Sie
    bezeichnen dies als Einzel-
    haft. :)
    Nun ghut. Wünsche weiter
    erfolgreiches Schreiben.

    Signatur
  • , 1
    is ja kein Erlebnisbereicht als solches - das Erlebte ist allenfalls Lieferant für die Form von Metaphern - aus verschiedenen Erlebnissen kurz gesagt.
  • Seite 1 von 1 [ 5 Beiträge ]

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